Der folgende Beitrag erscheint in der aktuellen Ausgabe der alt-katholischen Monatszeitschrift ‚Christen heute‘ als Ansichtssache. – Die aktuelle Ausgabe kann unter www.christen-heute.de als pdf heruntergeladen werden.
Seit im letzten Jahr zahlreiche Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, ist immer wieder davon die Rede, dass unser Christliches Abendland bedroht sei. Die christlichen Werte – so die Befürchtung – könnten angesichts der vielen Muslime, die unter den Flüchtlingen seien, verloren gehen. Interessanterweise werden diese Sorgen vor allem von Menschen, Gruppierungen und Parteien geschürt, bei denen mir immer wieder schleierhaft ist, was diese unter dem ‚Christlichen Abendland’ bzw. den ‚christlichen Werten’ verstehen.
Betrachten wir die Lage mal nüchtern: Deutschland hatte Ende 2014 rund 81 Millionen Einwohner. Davon gehörten rund 62 Prozent, also etwa 50 Millionen Menschen, einer der christlichen Konfessionen an; etwa 32 Prozent waren konfessionslos; etwa 4 Prozent – ca. 3,2 Millionen Menschen – waren Muslime. Die anderen Religionen teilen sich die restlichen 2 Prozent.
Nach Schätzungen sind rund 80 Prozent der Flüchtlinge die im letzten Jahr zu uns kamen Muslime – womit nicht ausgesagt ist wie viele unter ihnen ihre Religion tatsächlich praktizieren. Wenn diese Zahl zutrifft, ist der Anteil der Muslime durch die Flüchtenden also auf etwa 4 Millionen Menschen gewachsen.
Da frage ich mich: Sind die christlichen Kirchen so schwach auf der Brust, dass ein solch erhöhter Anteil an muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern unsere Gesellschaft gleich in die Knie gehen lässt? Oder besteht gar die Sorge, dass durch diesen Zuwachs eine Massenkonversion zum Islam ausgelöst wird? – Ich habe eher den Eindruck, hier werden möglicherweise aus rein politischen und interessegeleiteten Gründen Ängste geschürt, für die es eigentlich keine Fakten-Grundlage gibt.
Ich möchte die mit der Zuwanderung zusammenhängenden Probleme nicht klein reden: Selbstverständlich müssen wir ein wachsames Auge darauf haben, dass unsere offene, aufgeklärte und liberale Gesellschaft erhalten bleibt. Selbstverständlich beunruhigt es mich, wenn ich davon lese und höre, dass christliche Flüchtlinge in den Aufnahmelagern unter der dortigen muslimischen Mehrheitsgesellschaft zu leiden haben. Selbstverständlich müssen wir Wege finden, wie wir den bei uns Zuflucht suchenden Menschen unser Werte- und Gesellschaftssystem mit Demokratie, offener Pluralität und Gleichberechtigung aller Menschen als hierzulande verbindliche Norm klar machen können – sofern sie dieses nicht ohnehin begrüßen.
Aber aus diesem Grund den Untergang des Christlichen Abendlandes zu prophezeien halte ich für maßlos übertrieben. Zumal ich hinsichtlich der eben beschriebenen Werte durchaus auch bei zahlreichen Deutschen gewisse Defizite wahrnehme.
Angst macht mir nicht der Islam. Sorge machen mir bestenfalls extremistische und fundamentalistische Menschen – sowohl unter den Flüchtlingen als auch unter den Einheimischen. Und dabei ist es egal, ob es sich um religiös oder politisch extremistisch verortete Personen handelt.
Wenn wir nun aber vom Christlichen Abendland und von christlichen Werten reden, macht es Sinn, nochmal genauer darüber nachzudenken, was eigentlich darunter zu verstehen ist. Vielleicht wird dann auch klarer, weswegen es hier in der Tat Defizite gibt – die allerdings im Regelfall nicht mit dem Zustrom muslimischer Flüchtlinge zusammenhängen.
In der Satire-Sendung Mitternachtsspitzen am Karsamstag verkündete der Satiriker Wilfried Schmickler mit gewohnt scharfer Zunge, dass das Osterfest in diesem Jahr abgeblasen werden müsse, weil sich Jesus weigere aufzuerstehen und in diesem Jahr frustriert in seinem Grab bleibe. Dem Christlichen Abendland in Blick auf die katastrophalen und menschenunwürdigen Zustände im Flüchtlingscamp Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze wie Till Eulenspiegel den Spiegel vor die Nase haltend führt Schmickler aus: „Was hat der sich in seinem kurzen Leben auf Erden den Mund fusselig gepredigt: Nächstenliebe, Mitleid, Barmherzigkeit. Selig, die keine Gewalt anwenden, die Frieden stiften, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit. Denn ihnen gehört das Himmelreich. – Wenn dieser Jesus heute die Tagesschau einschaltet, dann sieht er doch nur eine einzige, nicht endende Dokumentation seines Scheiterns!“ Und er zitiert paraphrasierend Worte aus unserer eigenen heiligen Schrift als eine Erklärung Jesu für seinen Auferstehungs-Streik, die während der Ostermesse verlesen werde: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich aber sage Euch: Was ihr nicht getan habt einem meiner Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“ (Matthäus 25,42-45). Heribert Prantl, Journalist der Süddeutschen Zeitung, schlägt in dieselbe Kerbe und führt genau zu dieser Textstelle aus: „Das ist der Zentralsatz der christlichen Botschaft. Er ist mehr als ein Appell zu Hilfsbereitschaft; er ist ein Satz, der den Armen Recht gibt; ein Satz gegen das Ausspielen von Sicherheit gegen Humanität; er macht Menschlichkeit zur höchsten Instanz. … ‚Und was habt ihr getan?’ Diese österliche Frage ist die eigentliche Überlebensfrage für Gott.“
Ich glaube, genau hier liegt das Problem mit dem Christlichen Abendland. Darüber könnte es drohen unterzugehen. Aber das beste Mittel, die christlichen Werte nicht zu verlieren ist schlicht: sie pflegen und öffentlich sichtbar machen. Dann gewinnen wir Glaubwürdigkeit, nicht nur für unsere Botschaft, sondern auch für uns selbst und unseren Glauben.
In der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Hamburg (ACKH) haben dies einige Gemeinden bereits zu spüren bekommen: Ihr Engagement für Flüchtlinge hat, so berichteten sie in der letzten ACKH-Vollversammlung, dazu geführt, dass Menschen, die man noch nie in einem Gottesdienst gesehen habe, auf Kirche und Christentum aufmerksam wurden. Und diese Menschen seien überaus positiv erstaunt darüber gewesen, was Christ-Sein bedeuten kann.
Ich bin überzeugt: Unser Christliches Abendland wird nicht untergehen. Zumindest dann nicht, wenn wir unseren christlichen Glauben und unsere christlichen Werte nicht nur wie eine Fahne vor uns hertragen, sondern wenn wir sie mit unserem Leben erfüllen.