
Anlässlich des morgigen 25sten Jahrestages von Tschernobyl hatte ich mit dem Physiker und wissenschaftlicher Konsulent für nukleare Sicherheit Dr. Helmut Hirsch ein Interview zum Thema „Sicherheit der Atomkraft und atomares Endlager“ für die April-Ausgabe der Alt-Katholischen Monatszeitschrift „Christen heute“ geführt, welche sich Schwerpunktmäßig mit der Frage „Atomenergie und Alternativen“ auseinandersetzt.
Der Super-GAU von Fukushima am 11. März ereignete sich
bereits nach dem Redaktionsschluss der April-Ausgabe. Vor dem Hintergrund der atomaren Katastrophe in Japan erhält dieses Interview zusätzliche Brisanz.
Sehr geehrter Herr Dr. Hirsch: Vor 25 Jahren haben wir die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erlebt. Sicherlich ein tragisches Ereignis. Aber ist eine solche Katastrophe angesichts des Sicherheitsstandards der Atomreaktoren in Deutschland bei uns überhaupt möglich?
Der Sicherheitsstandard der deutschen Atomkraftwerke (AKW) heute ist sicherlich deutlich höher, als jener in der Sowjetunion im Jahre 1986. Außerdem ist ein Unfallablauf wie in Tschernobyl in den deutschen Anlagen nicht möglich, da es sich um einen anderen Reaktortyp handelt.
Dennoch: Auch in einem deutschen AKW kann es zu einem schweren Unfall mit Freisetzungen radioaktiver Stoffe in der gleichen Größenordnung wie vor 25 Jahren in Tschernobyl kommen. Ein denkbares Szenario wäre bei einem Druckwasserreaktor etwa ein Heizrohrbruch in einem Dampferzeuger, verbunden mit dem Ausfall von Sicherheitssystemen. In einem solchen Falle ist die Freisetzung sehr hoch und tritt frühzeitig ein, wodurch Maßnahmen des Katastrophenschutzes erschwert werden. Und immerhin sind 11 der 17 deutschen AKW solche Druckwasserreaktoren.
Die Folgen eines derartigen Unfalles können die Landkarte Mitteleuropas gravierend verändern. Die kurzfristige Evakuierung eines Gebietes von bis zu 10.000 km2 kann erforderlich werden, sowie eine dauerhafte Umsiedlung der Bevölkerung aus einem Gebiet von bis zu 100.000 km2. Todesfälle durch akute Strahlenkrankheit sind möglich; hunderttausende Krebsfälle können die Spätfolge sein.
Kann man die AKWs in Deutschland nicht so sicher machen, dass auf gar keinen Fall ein Unfall passieren kann?
Diese Möglichkeit sehe ich nicht.
Das Grundproblem der Reaktorsicherheit besteht darin, dass die Brennelemente im Reaktor auch dann noch Wärme abgeben, wenn die Kettenreaktion abgeschaltet ist – aufgrund ihrer intensiven Radioaktivität, die sich nicht abschalten lässt. Ihre Kühlung muss langfristig gewährleistet sein. Fällt sie aus, aus welchem Grund auch immer, kommt es zu einem Unfall mit Kernschmelze. Und das wird sich trotz aller technischen Vorkehrungen nie ausschließen lassen.
Zwar sind bei der neuen Reaktorgeneration, die sich zurzeit in Einführung befindet, zusätzlich Sicherheitssysteme vorgesehen, um die Folgen eines Kernschmelzunfalles zu beherrschen. Es ist aber fraglich, ob dies überhaupt gelingen wird. Eine Nachrüstung der deutschen AKW auf dieses Niveau ist jedenfalls nicht möglich.
Die Bundesregierung sieht schwere Unfälle mit Auswirkungen, wie ich sie vorhin dargestellt habe, schon heute als zwar theoretisch möglich, aber praktisch ausgeschlossen an. Sie beruft sich dabei auf Studien, die zeigen sollen, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses vernachlässigbar gering ist. Die entsprechenden Studien geben jedoch kein vollständiges Bild der Gefahren. Terror- und Sabotage-Aktionen werden dabei nicht berücksichtigt – bei diesen wichtigen Risiko-Faktoren kann überhaupt nicht mit Wahrscheinlichkeiten argumentiert werden. Auch unvorhergesehene physikalische und chemische Prozesse sowie unerwartete technische Versagensmechanismen können nicht berücksichtigt werden. Alterungserscheinungen können bisher kaum in die Analysen eingebaut werden; Methoden, die dies ermöglichen sollen, sind noch in Entwicklung.
In anderen Fällen ist eine Berücksichtigung zwar möglich, aber mit sehr großen Unsicherheiten behaftet – wie etwa bei Erdbeben oder im Hinblick auf das Verhalten des Sicherheitsbehälters, der den Reaktordruckbehälter umschließt, bei schweren Unfällen. Auch komplexe Formen menschlicher Irrtümer und Fehlhandlungen sind zahlenmäßig sehr schwer zu erfassen. Man kann die Möglichkeit schwerer Unfälle daher nicht einfach mit Verweis auf Wahrscheinlichkeitsstudien als praktisch ausgeschlossen ansehen.
Seit dem 11. September 2001, dem Terror-Anschlag auf das World-Trade-Center in New York, wird auch immer wieder behauptet, dass AKWs Ziel eines Anschlages sein könnten. Ist das überhaupt realistisch? Gibt es hier nicht ausreichende Sicherheitsmaßnahmen?
Was Menschen errichten haben, können Menschen auch zerstören oder schwer beschädigen.
AKWs sind durch Angriffe von außen und durch Sabotageaktionen von innen gefährdet. Angriffe von außen könnten aus der Luft, am Boden oder vom her Wasser erfolgen. Auch Beschuss von außerhalb des Anlagengeländes wäre möglich.
Eine besondere Gefahr geht von „Innentätern“ aus. Denkbar wären Sabotagehandlungen bei Reparatur- und Wartungsarbeiten an sicherheitsrelevanten Komponenten oder das Anbringen von Sprengladungen an kritischen Punkten.
AKWs könnten für terroristische Gruppen daher als „attraktive“ Angriffsziele erscheinen. Ein Angriff auf ein AKW kann zu weiträumiger radioaktiver Verseuchung führen. Der angegriffenen Region wird damit langfristig ein Stempel der Vernichtung aufgedrückt, viele Menschen erleiden Strahlenschäden, es kommt zu einem immensen wirtschaftlichen Schaden.
Mit der beschlossenen Verlängerung der Laufzeiten für AKWs in Deutschland entsteht ja auch zusätzlicher Atommüll. Können Sie schon abschätzen, wie sich die Menge im Vergleich zum ursprünglich geplanten Ausstieg verändern wird? Kommen damit zusätzliche Probleme auf uns zu?
Die abgebrannten Brennelemente aus den AKWs stellen die wichtigste und gefährlichste Hinterlassenschaft der Atomenergie-Nutzung dar. Sie sind hochradioaktiv und enthalten den Löwenanteil der radioaktiven Schadstoffe. Auf der Grundlage des früheren Atomgesetzes wären ab 01.01.2011 noch 3.500 bis 4.000 t angefallen. Durch die Laufzeitverlängerung sollen nun zusätzlich noch weitere rund 4.500 t hinzukommen.
Dies bedeutet, dass größere Mengen Atommüll über Jahrzehnte auf der Erdoberfläche zwischengelagert und danach in ein Endlager verbracht werden müssen. Zwischenlagerung und Transporte sind gegenüber Terrorangriffen verwundbar. Auch Unfälle sind möglich, insbesondere bei Nasslagerung und beim Transport.
Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es ein Endlager für hochaktive Abfälle bisher nicht gibt – in Deutschland nicht und auch nicht in anderen Ländern. Somit ist schlussendlich offen, was mit den Abfällen geschehen wird.
Mit dem Standort Gorleben haben wir doch schon eine relativ gut erforschte Lagerstätte für den Atommüll. Warum wird überhaupt über alternative Standorte nachgedacht? Und: Gibt es überhaupt ein sicheres Endlager für Atommüll?
Der Standort Gorleben weist mehrere gravierende Mängel auf, die sich auch nachträglich nicht ausräumen lassen. Dazu gehört seine Festlegung, die nachweislich nicht primär auf Grundlage geowissenschaftlicher Kriterien erfolgte. Hinzu kommt, dass viele Befunde der bisherigen Standortuntersuchung negativ sind. Dies betrifft besonders das Deckgebirge, das keine ausreichende Schutzwirkung gegen eventuell aus dem Salzstock austretende Radionuklide aufweist. Diese Befunde wurden bereits 1983 von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt entsprechend bewertet, ohne dass angemessene Schlussfolgerungen gezogen wurden.
Das „Versuchsendlager“ Asse sollte unter anderem dem Erkenntnisgewinn für Gorleben dienen. Das Projekt endete in einem Desaster.
Insgesamt stellt sich die Endlagersituation in Deutschland als eine Kette von Fehlentscheidungen dar, deren Folgen nun mit extremem Aufwand an Steuergeldern ohne Gewähr auf Erfolg begegnet werden muss. Die weitere Konzentration auf Gorleben setzt die Fehlentscheidungen fort.
Was die Standortsuche angeht, könnten wir uns vielleicht ein Beispiel an der Schweiz nehmen. Dort hat vor wenigen Jahren ein systematisches Verfahren der Standortsuche begonnen. Dabei sollen, ausgehend vom gesamten Staatsgebiet, in drei Etappen in schrittweiser Einengung Standorte für Lager für hochaktive sowie für schwach- und mittelaktive Abfälle gefunden werden. Die Inbetriebnahme des Lagers für hochaktive Abfälle ist derzeit für 2040 vorgesehen. Auch in Deutschland wurde vor Jahren ein ähnliches Verfahren entwickelt, das allerdings im Bundesumweltministerium in der Schublade verschwunden ist.
Abgesehen von der Standortsuche wäre in Deutschland auch eine Neudiskussion des Endlagerkonzeptes erforderlich, und zwar mit Blick auf die Rückholbarkeit der Abfälle, speziell auch in Salz.
Was die Sicherheit angeht, so ist bei der Endlagerung die Langzeitsicherheit des Endlagersystems von entscheidender Bedeutung. Dabei müssen Zeiträume von ca. 1 Million Jahre betrachtet werden, für die die Isolation der Abfälle von der Biosphäre gewährleistet werden muss. Der Nachweis der Langzeitsicherheit ist jedoch naturwissenschaftlich nicht exakt möglich, sondern kann nur anhand von Indizien geführt werden. Es besteht also zwangsläufig ein Risikorest, dessen Größe und Auswirkungen nicht einschätzbar sind.
Im Übrigen stellt auch eine kontrollierte Lagerung auf oder nahe der Erdoberfläche langfristig keine Lösung dar, da sie das Problem der Prognose der geologischen Entwicklung des Endlagersystems durch das deutlich größere Problem der Prognose der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung ersetzt.
Wenn ich Ihre Antworten Revue passieren lassen: Ist die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke, wie sie von der Bundesregierung beschlossen wurde, aus Ihrer Sicht dann überhaupt verantwortbar?
Ich halte die Entscheidung, die Laufzeiten zu verlängern, für falsch. Da war die Bundesregierung nicht gut beraten.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Kurzbiographie
Dr. Helmut Hirsch (61) ist Physiker und wissenschaftlicher Konsulent für nukleare Sicherheit. Er ist Berater der österreichischen Bundesregierung in Fragen der Kernenergie; als Vertreter Österreichs ist er Mitglied von Expertengruppen zur Reaktorsicherheit im europäischen Rahmen. Er ist auch für Umweltorganisationen wie Greenpeace und den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), tätig. Dr. Hirsch setzt sich seit 35 Jahren mit Fragen der Sicherheit von Kernkraftwerken und deren Entsorgung auseinander.