Der Energiehunger der so genannten „zivilisierten Gesellschaft“ scheint keine Grenzen mehr zu akzeptieren.
Jetzt soll sogar schon unter der Grabeskirche nach Öl gebohrt werden. Neueste Untersuchungen hätten darauf hindeuten, dass unter dem Felsen von Golgotha enorme Mengen des schwarzen Schmierstoffs unserer Wirtschaft schlummern.
Nach Informationen der zuständigen Ministerien werde derzeit überlegt, ob man das Grab Jesu für die Zeit der notwendigen Probebohrungen evtl. in einen anderen Stadtteil Jerusalems verlegen könnte. Auf religiöse Empfindlichkeiten könne hier keine große Rücksicht genommen werden, da eine entsprechende industrielle Erschließung dieser Energieressource enorme Steuereinnahmen und zahlreiche Arbeitsplätze verspreche.
Natürlich müsse daher auch darüber nachgedacht werden, welche Lösung hinsichtlich der Kreuzigungs- und der Begräbnisstätte dauerhaft gefunden werden könne, wenn die Probebohrungen den erwarteten Fund eines großen Ölfeldes bestätigen sollten. Schließlich könne man nicht aus religiösen Rücksichten auf die Ausbeutung eines solchen Erölfeldes verzichten.
Auch Pläne für eine Raffinerie in unmittelbarer Nachbarschaft zum vermuteten Ölfeld liegen bereits in den Schubladen.
Schnitt
Ein Sturm der Entrüstung dürfte wahrscheinlich losbrechen, wenn diese Meldung Realität wäre. – Ist sie aber nicht. Jedenfalls nicht für das Christentum.
Aber genau etwas ähnliches geschieht derzeit in Australien. Nur sind eben nicht die Religion und die religiösen Gefühle von uns Christinnen und Christen betroffen, die wir rund 1/3 der Weltbevölkerung stellen, sondern die der Aborigines in Australien – einer auf die Weltbevölkerung umgerechnet verschwindent kleinen Gruppe.
Im Nordwesten Australiens boomt derzeit die Erdgasindustrie. Sie sichert dem australischen Staat gigantische Einnahmen und schafft unzählige Arbeitsplätze. Allerdings sind durch die industrielle Erschließung der Westküste, an der die Gasfelder liegen, prähistorische Steingravuren der Aborigines gefährdet.
Diese bis zu 30.000 Jahre alten Gravuren seien „die Bibel“ der Aborigines, wie es Wilfried Hicks, der Stammesälteste der Aborigines, ausdrückt: „Die Europäer gehen in die Kirche und knien vor dem Altar. Uns sind diese Felsen heilig.“
Aber statt Rücksicht darauf zu nehmen, billigte die australische Regierung Ende letzten Jahres einen weiteren Bauantrag des Energiegiganten Woodside Petroleum, der sich die Entfernung von rund 200 der Felszeichnungen offiziell genehmigen ließ. Begründung des West-Australischen Energieministers Francis Logan für dieses Vorgehen: „Die Welt hat einen unstillbaren Hunger nach Energie … Und wir sind in der Lage, diesen Hunger zu stillen … Das eröffnet phantastische Möglichkeiten für unsere Wirtschaft.“
Ich finde das pervers. Religiöse Traditionen sind zu respektieren und dürfen nicht wirtschaftlichen Interessen geopfert werden. Und das gilt nach meiner Ansicht, die ich als glaubender und überzeugter Christ vertrete, auch für religiöse Traditionen anderer Kulturen, auch wenn sie nicht meine sind.
Zudem: Wenn wir Christinnen und Christen zu dieser Mißachtung religiöser Gefühle und religiöser Orte schweigen, dann brauchen wir uns nicht zu beklagen, dass auch unsere religiöse Geschichte irgendwann der Wirtschaft geopfert werden wird, wenn tatsächlich ein ähnlicher Fall eintreten sollte, wie in der hypothetischen Geschichte, dass unter Golgotha Öl gefunden worden sei.
Bericht im ARD-Magazin „titel, thesen, tempramente“ (Text- & Filmbeitrag): Der Schatz von Murujuga. Erdgasgigant bedroht ältestes Kulturerbe der Aborigines
Foto: randbild – Quelle: http://www.flickr.de